Teil 2: Die Entwicklung des Mundes im Zusammenspiel von Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken. Konzept der Myofunktionellen Therapie (MFT)
Sensorische Informationen
Der sensorische Input bestimmt dabei die mundmotorischen Reaktionen. Er nimmt
mit Einfluß auf die Bewegungsrichtung, die Auswahl einer Bewegung und das
Voranschreiten reiferer motorischer Muster, letztendlich eine optimale Anpassung
orofazialer Praxien wie Saugen, Kauen, Schlucken und Sprechen an das Wachstum
der oralen Strukturen. Neurophysiologisch ist es mittlerweile unbestritten, daß
die Korrelation zwischen den Signalen des motorischen Nervensystems, die aktive
Bewegungen begleiten, und den sensorischen Rückmeldungen eine wesentliche Rolle
bei der Wahrnehmungsadaption (Wahrnehmungsverarbeitung) spielen.
Mit dem
Durchbrechen der Zähne wird die räumliche Dimension des Mundes empfunden. Kleine
Nahrungsteile werden aufgenommen und die Zunge bewegt sich zum Nahrungsstimulus
hin. Die Erweiterung dieser Erfahrungen von Beißen und Kauen fester
Nahrungsteile unterstützt das Bewußtsein für die seitlichen, oberen und unteren
Begrenzungen des Mundes. Das Kind sucht nach Berührungsempfindungen und will
taktile Informationen erhalten. Dabei ist zu beachten, daß der Mundraum
an der Erkennungsfunktion beteiligt ist. Ein Lernangebot über oralsensorische
Qualitäten, z. Bsp. Erforschen von Gegenständen durch den Mund, ist beim
Kleinkind eine wichtige Wahrnehmungsquelle. Durch den Tastsinn ist ein
räumliches Muster zu erfassen. Es betrifft die Aufnahmefähigkeit der Haut für
Außenreize. Wir sprechen in der Sprachtherapie von „oraler Stereognose“. Das ist
die Fähigkeit im Mundraum Objekte zu erkennen und zu unterscheiden, allein durch
Betasten. Hahn (1997) beschreibt: „Wie mit der Hand können wir im Mund ein
Objekt umschließen und damit eine räumliche oder dreidimensionale Wahrnehmung
und Erkenntnis des Objekts erhalten.“ (S.185) Fehlt diese ist die orale
Wahrnehmung in ihrer Erkennungsfunktion begrenzt.
Für den Lautbildungsprozeß dient der Sinn für Feinbewegungen der
Selbstwahrnehmung beim Sprechen. Berührungskontakte von Lippen, Kiefer, Zunge
und Gaumensegel und ein langsames Erspüren der oralen Strukturen machen
Bewegungsabläufe beim Sprechen erst bewußt. Untersuchungsergebnisse belegten,
daß Kinder mit guter oraler Stereognose ihnen unbekannte Laute besser erlernen
und artikulieren als Kinder mit einem reduzierten Erleben dieser
Empfindung.(vgl. dazu Dahan,1985).
Die taktile Information beeinflußt ebenso
die Kieferbewegung beim Kind, da es die Größe und Beschaffenheit von Nahrung
kinästhetisch (für den Bewegungsablauf) abstimmen muß.
Über die
Nahrungsaufnahme und ihre Zerkleinerung entwickeln die Kinder ein Erleben für
vertikale, horizentale und diagonale Mittellinien im Mund und haben ein besseres
Gefühl für den Mundmittelpunkt. „Das Bewußtsein für den Mund hilft dem Kind,
dort den Mittelpunkt zu finden, nämlich den Ruheplatz für die Zunge.“ (vgl.
Morris und Klein 1995, S. 20) . Dabei lernt es, die Zungenspitze aktiv
anzuheben. Die Zunge erfährt so allmählich einen unabhängigen sensorischen
Kontakt mit dem Gaumen.
Diese Entwicklung setzt fast zeitgleich ein mit der
Aufrichtung des Kindes zum freien Stehen und Gehen. Mit der aufgerichteten
Haltung orientiert sich das Kind im Raum. Das eigene Lageempfinden im Verhältnis
zum Raum wird über das Bogengangsystem im Innenohr, dem Gleichgewichtsorgan oder
dem vestibulären System, wahrgenommen. Balance und Gleichgewicht, ein
Bewußtsein für den Körper in der Bewegungsausführung gibt Informationen über
Mundschluß und Atmung. Das Schluckmuster kann besser kontrolliert werden über
das Registrieren der Körperhaltung. Dabei hebt sich die Zunge jetzt gegen den
harten Gaumen und drückt dadurch die Nahrung nach hinten. Die Zahnreihen sind
beim Schluckakt geschlossen. Diese Einstellung der Zahnreihen gibt dem Moment
des Schluckens eine stabile Position.
Über immer größer werdende Erfahrungen mit den primären Vitalfunktionen lernt
das Kind diesen physiologisch richtigen Ablauf beim Schlucken und kann dann ab
ca. dem 3. Lebensjahr die Zungenfunktion auf die richtige Schluckweise
umstellen.
Hierbei helfen dem Kind Informationen über unterschiedliche
Wahrnehmungsqualitäten, in denen es seine Haut, seine Gelenke, seine Muskulatur,
letztendlich den Zusammenhang seines Körpers mit sich selbst, spürt. Die
propriozeptive Wahrnehmung, die eng mit der vestibulären zusammenhängt,
ist notwendig, um die Körperhaltung konstant auf die ablaufenden Bewegungen
einzustellen.
Über die Propriozeptoren spürt das Kind die Muskelspannung,
bzw. deren Änderung. Diese Signale tragen zur Wahrnehmung bei, wie die einzelnen
Körperteile zueinander liegen und unterstützen das Unterscheidungsvermögen für
die Qualität der Bewegungen. Sie werden leichter und lockerer, wenn die
muskulösen Spannungen auf ein richtiges Maß eingestellt sind und auf die Gelenke
weniger Druck ausgeübt wird. Dazu gehört auch die Fähigkeit zur körperlichen
Ruhe, aus der heraus beobachtet werden kann, ob eine Bewegung zu schnell,
langsam, gleichmäßig, fest, locker oder druckvoll erfolgt.
Über diese Sensibilität stimmt das Kind das Kauen der Nahrung ab und kann die Beißstärke auf angemessen oder nicht angemessen überprüfen. Beim gleichmäßigen Abbeißen umschließt das Kind die Nahrung mit den Zähnen und den Lippen, beißt ganz durch und der Kiefer läßt locker los. Bei festerer Nahrung nehmen die Seitwärtsbewegungen der Zunge zu, um den Anforderungen dieser Nahrung gerecht zu werden. Die Bewegung der Zunge über die vertikale Mittellinie unterstützt dann ein rotatorisches Kaumuster. Die getrennten Bewegungen von Kiefer, Zunge und Lippen brauchen eine geordnete Koordination beim Kauen, damit es zu einer weichen fließenden Bewegung mit geschlossenem Mund kommt.
Manche Kinder haben Probleme mit einem richtigen Kaumuster. Sie lehnen festere Nahrung ab oder kauen mit offenem Mund, mit dem Ergebnis von schmatzenden Geräuschen beim Essen. Dabei erleben sie häufiger Ermahnungen und der Vorgang des Essens wird zu einer konfliktreichen Situation. Übersehen werden dabei oft Tonusabweichungen mit eingeschränkten Teilfunktionen.
Eingeschränkte Teilfunktionen
Durch eine offene Mundhaltung (nicht nur beim Kauen), die meistens Mundatmung bedeutet, ergibt sich eine Tonusänderung der Lippen. Nach außen hin sichtbar ist eine kurze Oberlippe und eine nach außen gerollte dickere Unterlippe. Der obere Teil des Lippenmuskels wird nicht zum Einsatz gebracht. Ein niedriger Wangen - und Lippentonus (Wangen und Lippen arbeiten eng zusammen) verringert die Fähigkeit, Nahrung und Speichel in der Mundhöhle zu bewahren. Behält das Kind das Essen ohne Unterstützung der Lippen im Mund, wird mit offenem Mund gekaut. Ein aktiver Mundschluß hängt damit zusammen, wie sich Ober -und Unterlippe zueinander bewegen und Berührungskontakte herstellen, die sensorisch gespürt werden müssen.
Die Lippenkontrolle und ein Mundschlußmuster wird mit der Zeit erworben, wobei der Mundschluß vom sensorischen Input abhängt. Dieser Input kann auch von der Nahrung ausgehen. D.h. gustatorische (schmecken) und olfaktorische (riechen) Impulse sorgen für die feine Geschmacksinterpretation, die einen Einfluß darauf nehmen, wie Nahrung angenommen und Eßbewegungen eingenommen werden. Kauen erfordert einen intensiven Kontakt mit der Nahrung. Gerade beim Geschmackssinn spielt die Lust - bzw. Unlust, die die unterschiedlichen Geschmacksreize auslösen, eine wichtige Rolle. Die Bewegungen, die die Bolusformung und das Vermischen mit Speichel im Mund organisieren sind ein Teil der oralen Vorbereitungsphase des Schluckens.
Erst danach hebt sich die Zungenspitze an den oberen Alveolarrand (Zahnbogen
vorne/oben) und drückt im Mittelteil gegen den harten Gaumen zum Transport von
Speise, Speichel oder Getränken. Dabei wird ein für effizientes Schlucken
erforderlicher Unterdruck im Mund aufgebaut. Die Verhinderung eines
ausreichenden Unterdruckes im Mund kann durch Schwächen des weichen Gaumens oder
durch einen unausgewogenen Zungentonus hervorgerufen werden. Hierbei hebt sich
die Zunge aufgrund einer Schwäche des Mittelteils nicht nach oben gegen den
Gaumen, sondern preßt nach vorne zwischen oder hinter die Zahnreihen
(Zungenpressen). Bei diesem Schluckmuster ist es schwierig den Kiefer
geschlossen zu halten. Diese physiologisch fehlende Kieferanpassung steht der
Stabilität im Wege.
Eine verstärkte Zungenprotrusion (Zungenvorverlagerung)
wird häufig bei Kindern mit unausgeglichenem Haltungstonus beobachtet. Manche
erweitern möglicherweise als Reaktion auf vergrößerte Gaumenmandeln (Tonsillen)
durch ein Vorstoßen der Zunge den Atemweg. Eine offene Mundhaltung ist die
Folge, welche die Spannkraft der Atmung beeinträchtigt. Im Mund selbst entsteht
ein mangelnder Sog, so daß eine natürliche Rhythmisierung durch den Wechsel der
Luftdruckverhältnisse unterbrochen ist. Insgesamt wird mehr Druck ausgeübt.
Häufig wird der fehlende Abschluß des Mundes auch von außen, evtl. durch den
Daumen oder Schnuller, vorgenommen.
Diese fehlende Abschlußfunktion führt zu
einem muskulären Ungleichgewicht zwischen der Muskulatur des Mundinnennraumes
und der äußeren mundumgebenden Muskulatur.
Fehlfunktionen in diesen Bereichen
wirken sich auf die Zahn - und Kieferentwicklung, sowie auf Atmung und
Gesichtswachstum aus. Die vitale Bedeutung der Atmung mit Einfluß auf die
Grundfunktionen des Organismus hebt Bahnemann (1979) hervor. Er sagt dazu:
„Mundatmung ist der Prototyp der Fehlatmung und derzeit neben Haltungsschwächen
die Berufskrankheit unserer Schuljugend. Ihre Symptomatik beschränkt sich nicht
auf Oberkieferenge, adenoide Vegetationen und chronische Tonsillitis, sondern
hat weitreichende Folgen für Gesamtorganismus und Gesamtpersönlichkeit.“(S.
117).
Ziele der Myofunktionellen Therapie
Störungen der vitalen Bewegungsmuster während der Mundentwicklung sind Inhalte der Myofunktionellen Therapie (MFT), deren therapeutisches Konzept die Normalisierung orofazialer Entwicklungsabläufe zum Ziel hat. Ihre Aufgabe ist es, die physiologischen Voraussetzungen für ein koordiniertes Zusammenspiel der primären Vitalfunktionen anzubahnen. Damit schafft sie das physiologische Umfeld für die korrekte Artikulation.
Die frühe Förderung bis zum Beginn des Schuleintritts orientiert sich an den
sensomotorischen Erfahrungen, die die Wahrnehmung des Mundraumes bewußtmachen.
Das Ergebnis sollte die Überwindung von Saug - und Lutschgewohnheiten, die
Bahnung einer physiologischen Zungenruhelage mit Mundschluß und Nasenatmung und
der Erwerb einer stabilen Unterkieferposition, mit der das Schluckmuster besser
kontrolliert werden kann, sein. Die Wechselwirkung zwischen Haltung, Tonus und
Atmung muß dabei beachtet werden. Die MFT ist in ihrem Aufgabenfeld auf die
Zusammenarbeit mit anderen Fachdiziplinen angewiesen. Je früher ein
funktionelles Gleichgewicht erreicht wird, desto günstiger ist die Entwicklung
des Mundes und die Selbstwahrnehmung beim Sprechen.
Mit einem erweiterten
Verständnis für die Zielsetzung der Therapie wird im Erforschen der
Mundraumfunktion ein Lernen mit der Konzentration auf die eigene Person und die
eigenen Aktivitäten ermöglicht. Oralsensorische Empfindungen lassen
Lebensäußerungen zum Ausdruck kommen, die auch die Einstellung zur eigenen
Person und zur Umgebung wiedergeben. Ich möchte meine einleitenden Äußerungen
hier am Schluß bekräftigen und den gemeinsamen Lernprozeß in den Vordergrund
stellen, indem auch wir, die Eltern oder Fachleute, uns lernbereit offenbaren
müssen. Erlebt das Kind in der Kommunikation mit uns die Freude am Entdecken
neuer Fähigkeiten, kann es sich in seiner Lernfähigkeit öffnen, sich selbst
wahrnehmen und neue Erfahrungen als Bereicherung erleben.
Literatur
Bahnemann, F.: Mundatmung als Krankheitsfaktor. In:
Fortschr.Kieferorthop. 40 (1979), 117-136 (Nr.2)
Bigenzahn, W.(Hrsg.):
Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter. Thieme Verl., Stuttgart
1995
Dahan, J.: Orale Wahrnehmung und Motorik. In: Fortschr.
Kieferorthop. 46 (1985), 442-460 (Nr.6)
Dornes, M.: Der kompetente Säugling.
Fischer Taschenbuch Verl., 1993
Freiesleben, D., Hahn,V.: Grundlagen
und Praxis der Myofunktionellen Therapie unter besonderer Berücksichtigung des
Einsatzes in der pädagogischen Sprachtherapie. In: Sprache-Stimme-Gehör 19,
S.118-125. Thieme Verl., Stuttgart 1995
Hahn, V.: Untersuchung zur
oralstereognostischen Leistung bei orofazialen Dyskinesien. In:
Sprache-Stimme-Gehör 21, 185-191. Thieme Verl., Stuttgart 1997
Morris,
S.E., Klein, M.D.: Mund-und Eßtherapie bei Kindern. Fischer Verl.
1995
Müßig, D.: Mund-Raum-Funktion. In: Berndsen, K.-J. Berndsen,
S.(Hrsg.): Neuromotorische Koordinationsstörungen und Auswirkungen auf die
orofaziale Muskulatur. Kongreßberichte. Peter Lang Verl., Frankfurt (1991)
10-29