Teil 1: Die Entwicklung des Mundes im Zusammenspiel von Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken. Konzept der Myofunktionellen Therapie (MFT)

von Angelika Kölsch
In: Elternforum 4, Cochlear Implant Zentrum Wilhelm Hirte Hannover, 1998, Seite 21-28

Die Thematik der MFT setzt sich mit den Lernprozessen der primären Vitalfunktionen von Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken auseinander. Richtig erlernte Bewegungsabläufe mit diesen Vitalaufgaben bilden eine natürliche Voraussetzung für die Sprechfertigkeit. Nicht- richtige Bewegungsabläufe können die Mundraumwahrnehmung und damit auch die Artikulation negativ beeinflussen.

In der therapeutischen, wie auch in jeder anderen kommunikativen Situation mit dem Kind, gehe ich von einem gemeinsamen Lernprozeß aus, in dem alle Beteiligten das Entdecken von neuen Fähigkeiten erleben wollen, sogenannte Schwierigkeiten nicht als Defizit deuten und mit dieser Haltung die Offenheit für Entwicklungsvorgänge praktizieren können, die die vitalen Interessen des Kindes unterstützt. Dabei fühlt sich das Kind geborgen. In diese Geborgenheit wird das Körperempfinden spürbar miteinbezogen. Das Kind entwickelt über die bewußte Wahrnehmung seines Selbst ein Selbstwertempfinden. Wieweit dieser Aspekt der Selbstwahrnehmung auch für die Mundentwicklung bedeutsam ist, möchte ich im folgenden näher darstellen.

Das Konzept der Myofunktionellen Therapie beschäftigt sich mit dem Organsystem Mund, bei dem es darum geht, das koordinierte Zusammenspiel von Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken als sprachbasales Aufbaumuster für die korrekte Artikulation anzubahnen. Es geht um die Mundfunktion, von der Müssig (1991) sagt: “Durch den Mund treten wir mit unserer Umwelt in Verbindung. Er ist Mittler zwischen innen und außen.“ (S. 10).

Diese enge Arbeit an der Mundfunktion hat die Zunge als zentralen Bezugspunkt, die ja auch mit ein Hauptfaktor beim Sprechen in diesem organischen Zusammenhang ist.
Eine offene Mundhaltung mit Zungen- Lippenkontakt und ein gegen die Zahnreihen gerichtetes Zungenpressen beim Schlucken, welches die Bewegungsausführungen eines frühen Saugmusters repräsentiert, sind die Leitsymptome, die die Entwicklungsabläufe des Mundes, also die orofazialen Fähigkeiten des Kindes beeinträchtigen.

Ich konnte beobachten,

  • daß Kinder mit diesem abweichendem Schluckmuster kompensatorische Bewegungsmuster zeigten, die die Haltung und Bewegung des gesamten Körpers miteinbezogen;
  • daß die Kinder ihre natürliche Rhythmisierung durch Fehlatmung unterbrachen;
  • daß zungenpressende Kinder entweder verlangsamte oder hyperkinetische Wahrnehmungsmodalitäten zeigten;
  • daß mangelndes kinästhetisches und propriozeptives (Bewegungsausführung und Druckveränderung) Empfinden ihren Sprechablauf nicht ausreichend präzisiert;
  • daß ihre Aufmerksamkeitszentrierung schwierig ist.

Dabei gehe ich davon aus, daß eine gestörte Ordnung der Mundfunktionen (orofaziale Funktionen) auch Sprach- und Wahrnehmungsinhalte beeinflußt.

Eine mögliche Beobachtung beim Kind könnte folgendes Beispiel sein: Ein fünfjähriger Junge wird von seiner Mutter zur Erstuntersuchung in der Praxis vorgestellt.
Im Sitzen ist der Schultergürtel des Jungen kollabiert, der Kopf liegt im Nacken, die Mimik ist ausdruckslos, er hält Blickkontakt. Sein Mund steht offen, die Atemluft geht durch den Mund, die Zunge behält eine vorverlagerte Disposition. Beim Abbeißen verliert das Kind viele Krümel und kaut mit Auf/Abbewegungen (Hackmuster). Der Mund wird beim Kauen geöffnet, es geschieht kein weiches Durchbeißen der Nahrung. Beim Schlucken preßt er die Zunge nach vorne zwischen die Zahnreihen. Der Zahnbogen des Oberkiefers ist schmal und die oberen Schneidezähne stehen nach vorne. Das Kind reagiert hypersensibel auf Berührung und zieht den Kopf zurück. Es interessiert sich für Bewegungsgegenstände (Ball, Balancebrett, Kriechtunnel, Schaukel), denn es schaut sie an, geht drumherum und traut sich nicht damit zu spielen. Beim Sprechen zeigt der Junge wenig Mundbewegungen und Lautbildungsfehler. Die Mutter berichtet, daß ihr Sohn beim Einschlafen und manchmal tagsüber, wenn er sich langweile am Daumen lutsche.
Hier ist von einer orofazialen Dysfunktion auszugehen, die ihre Auswirkungen auf den gesamten Körpertonus mit den entsprechenden motorischen Äußerungen zeigt.
Es ist eine orofaziale Entwicklungsstörung, die ebenso die Sprache des Kindes und seine Gesamtpersönlichkeit beeinflußt. Die Arbeit an der Mundfunktion bedeutet hier nicht nur das Erreichen einer korrekten Gesichts- und Schlucktätigkeit, sondern auch verbesserte Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und sprachorientierte Wachheit.

Wir begegnen auch dem Phänomen, welches in diesem Zusammenhang zunächst nicht so augenfällig sein mag, dennoch für den Körper logisch also physiologisch. Wir müssen in die Überlegungen zur Heranreifung mundmotorischer Fähigkeiten den ganzen Körper und die kommunikative Umgebung, d.h. unsere Antworten auf die Impulse des Kindes, miteinbeziehen.

Die frühe Entwicklung im orofazialen Bereich

Um mögliche Entwicklungsbeeinträchtigungen zu verstehen, sollten wir zunächst einen Blick auf das normale Wachstum des Mundraumes lenken.
Neugeborene entwickeln eine körperliche Raumdimension und eine zeitliche Dimension. Sie entwickeln eine Raum- und Zeitorientierung. Ihre Motorik will angewendet und gelebt werden. Das Kind verknüpft sensible Wahrnehmungen und motorische Aktivitäten. Nach der Geburt ist diese Dimension Sensorik und Motorik direkt anwesend. Es sind die beiden Systeme des menschlichen Körpers, ohne die der Vorgang des Lernens nicht möglich ist. Sensomotorik ist die Verbindung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer motorischen Antwort. Dornes (1993) ein Vertreter der modernen Säuglingsforschung beschreibt: „Neugeborene suchen bereits aktiv nach Reizen und können verschiedene Reize voneinander unterscheiden. Ihre Reizverarbeitung ist ein aktiver und selektiver Prozeß, der bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“ (S.40). Dabei vermittelt die Sensorik zunächst die wichtigen Einflüsse für die Motorik.
Die Zunge eines Neugeborenen füllt den gesamten Mundraum aus und berührt gleichzeitig den Mundboden und den Gaumen. Der Mundraum ist klein und das Bewegungsausmaß der Zunge begrenzt. Diese Relationen sind für die Nahrungsaufnahme wichtig, sie erhöhen die Saugkraft. Für Neugeborene ist Mundatmung nicht möglich. Der Luftstrom wird durch die Nase gelenkt, dadurch umgeht er den engen Weg durch den Mund. Der Säugling schluckt und atmet gleichzeitig. Der Kehlkopf ist noch sehr hoch gestellt, so daß die späteren Verschlußmechanismen beim Schlucken zum Schutz der Luftröhre noch nicht erforderlich sind.

Erst mit ca. einem halben Jahr vergrößert sich der Mundinnenraum und verlängert sich in vertikaler Richtung. Die Zunge erhält mehr Bewegungsspielraum. Die frühe Vor-Zurück-Saugbewegung ändert sich in eine Auf-Ab-Richtung.

Der Mundraum erlebt im folgenden durch das Zahnwachstum eine neue Entwicklung. Die früheren Saugpolster, die die Wangen festigten, verlieren ihre ursprüngliche Stabilisierung zugunsten einer aktiven Kieferstabilität. Die jetzt kommenden unteren Milchschneidezähne trennen den Zungen- Lippenkontakt. Die Lippen bilden mehr und mehr einen Verschluß und erhöhen zusammen mit der Zunge den Mundinnendruck.

Das Wachsen des Unterkiefers gibt dem Kind eine Kontrolle von Kieferöffnung und Kieferschluß. Nach dem Durchbruch der Zähne erfolgen die ersten Kaureaktionen und bereiten das Kind auf festere Nahrung vor. Mit diesen Kauerfahrungen wird die Unterkieferposition stabilisiert und bewirkt neben der freien Zungenbeweglichkeit auch den besseren Mundschluß.
Für die Therapie heißt das, Kinder müssen immer erst eine aktive Kieferstabilität erwerben und durch diese neue Kontrollmöglichkeit lernen, Kiefer - und Zungenbewegungen voneinander zu trennen. Dies hat weitere Auswirkungen für die Schluckbewegungen. Das Kind kann jetzt nicht mehr gleichzeitig schlucken und atmen wie im frühen Saugmuster. Der Kehlkopf hat sich weiter nach unten verlagert, so daß über diese neurologische Reifung eine andere Schluckkoordination ermöglicht wird.